Sortier dich!
Ich habe mich mal gefragt, was eigentlich so alles in meinem Leben wichtig war. Und was ich so gemacht habe. Und wo ich eigentlich gewohnt habe. Und wer meine Freunde waren. Und stellte fest, dass ich mich an ziemlich wenig erinnern konnte. Weil ich nur noch die besten Stories wusste, die man immer erzählt, sonst aber: Vergangenheit. Eigentlich schade, weil doch die Vergangenheit Zeugnis deines Lebens ist und viel über dich weiß.
In dem Wunsch einfach mal ALLES, woran ich mich erinnern kann aufzuschreiben, habe ich ein ganz einfaches „Ding“ entwickelt, mit dessen Hilfe man sich an wunderbaren Abenden näher kommen kann. Man braucht kein Geld, nur Zeit und sich selbst – und eine Tapetenrolle. Wie es geht, kommt jetzt:
- Bau dir einen neuen Arbeitsplatz von der Größe eines Esstisches, z.B. ein Türblatt auf zwei Böcken oder wer in einem Zimmer wohnt: Sperrholzplatte aufm Bett. Sitz nicht an deinem normalen Tisch, dort kommen die Erinnerungen schlechter, weil du da deinen Alltag regelst.
Dazu brauchst du ein 30cm Lineal, um Abstände zu messen und eine Holzlatte, um lange Linien zu ziehen.
Stifte/Kulis/Marker deiner Wahl (Bleistift ist gut, lässt sich wegradieren).
Und das Kernstück: Eine Rolle Papier, auf der du schreiben kannst, z.B. glatte Tapete. (Du kannst auch mit einer A3-Pappe anfangen, mir war das aber bald zu klein.) - Das Grundgerüst, in dem sich alles abspielen wird, ist ein einfaches Diagramm.
Auf der Waagerechten verläuft deine Zeit. Sie beginnt ein paar Jahre vor deiner Geburt und endet offen (weil du ja noch nicht tot bist). Je nach Platz bekommt jedes Jahr ein paar Zentimeter Platz. Bsp: Du bist 40, beginnst 10 Jahre vor deiner Geburt und gibst jedem Jahr 4cm, dann wird die Rolle 200cm läng. Kannst also von der Tapete schon mal ein drei Meter langes Stück abschneiden und den Rest weglegen. Zieh also am unteren Rand einen dicken Strich und trage die Jahre ein. - Auf der Senkrechten (Y-Achse) kannst du verschiedene Kapitel deines Lebens, die du erinnern willst, eintragen. Wie im Beispiel oben oder einfach alles, was dir einfällt, wie:
– Welches Auto hast du wann gehabt?
– Wo warst du wann im Urlaub?
– Was war dein Werdegang (Schule, Ausbildung, Beruf)?
– Daten deiner Familie, Geburtstage, Hochzeiten, Kinder,…?
– Deine Kinder? - Aber auch:
– Welches Jahr war besonders gut? Hebe es hervor.
– Tiefpunkte? Benutz ein Symbol, das nur du verstehst (Falls du das Ganze anderen zeigen möchtest). - Such dir also deine „Kategorien“. Der eine kommt auf fünf, die andere auf 15.
- Diese Kategorien sind die Waagerechten, um sie voneinander zu trennen, ziehst du waagerechte Linien.
- Und jetzt gehts los, wenn du willst einen ganzen Winter lang: Erinnerung für Erinnerung füllt sich das Blatt.
Was ich daraus gezogen habe:
1. Ohne Erinnerungsstress kann ich alles, was mir aus der Vergangenheit in den Sinn kommt, notieren und dann in meinem Kopf nach hinten schieben. Danach kommen neue Erinnerungen, Sachen, die mir lang nicht eingefallen waren. Meine Erinnerungen werden immer bunter und kompletter.
2. Plötzlich fallen mir Zusammenhänge auf, die mir vorher nicht bewusst waren, teilweise muss ich meine Erinnerung korrigieren, weil es so gar nicht war.
3. Wenn ich mich langweile oder nicht schlafen kann, habe ich gut zu tun. Plötzlich bin ich wieder an mir dran, habe bessere Stimmung.
4. Und werde interessiert nachdenklich.
Anmerkung: Jeder (Mensch) muss dabei selbst entscheiden, wie weit er geht. Deswegen überleg, ob du das wie einen Abend mit alten Dias gestaltest oder ob du dich bis tief in deine Unklarheiten zurückerinnern willst. Egal wie: Geh gut mit dir um!
Ich glaube, das reicht an Anleitung, um es auszuprobieren.
Dieses „Ding“ habe ich mal als Dreitages-Seminar an der Nordsee-Akademie in Leck, Nordfriesland, mit acht älteren TeilnehmerInnen durchgeführt. Es hat funktioniert, die Menschen fühlten sich bereichert, waren teils erstaunt. Einige wurden immer lebendiger, andere wurden stiller. Jeder durfte erzählen, niemand musste. Eine Frau erzählte eine Geschichte aus dem Krieg und endete mit:“ Wissen Sie was, das habe ich noch nie jemandem erzählt.“ Das war 2007, 62 Jahre danach.
Sie können dieses Ding frei für sich benutzen. Wenn Sie eine Gruppe, ein Verein, eine Schule sind, können Sie es wunderbar als Programm anbieten. Es ist für ältere Erwachsene von Interesse, funktioniert aber auch mit Kindern und Jugendlichen. Es fällt in der Bildung unter „Biografie-Arbeit.“
Viele Grüße, Kristian Dittmann