Unmittelbarkeit

Unmittelbarkeit

Was für ein schönes Wort, finden Sie nicht? Es ist Ihnen zu sachlich, sächlich? Dabei ist sie weiblich, die Unmittelbarkeit, außerdem eines der Worte, die drüber stehen, etwas größeres beschreiben. Und sie ist, am wichtigsten, ein Wort, das noch nicht verheizt wurde. Was ich damit meine?

Ich segelte von Flensburg auf die Kanaren, die europäische Küste entlang und machte Stop auf Guernsey, einer kleinen britischen Insel mitten im Wasser. Und freute mich, weil Inseln anzusteuern immer besonders ist. „Gleich betrittst du einen eigenen, kleinen Kosmos.“ Als ich im Stadthafen festgemacht hatte und mich umguckte, blieb mein Blick an einem riesigen Plakat hängen. Schick gemacht in blauen Tönen, drauf stand „Discover the exciting world of O2!“

Krass. Da kommst du aus dem grauen Nichts, hattest einen Tag lang die große Weite im Blick, bist auf diese Art gereinigt, und gespannt, was nun kommt, und was kommt, ist der Aufruf einer Firma, die Telefonverbindungen herstellt, die also so ziemlich das Langweiligste macht und sollst zu ihnen kommen, um zu gucken, was es da aufregendes zu entdecken gibt.

„Entdecken“ ist ein tolles Wort, auf englisch wie auf deutsch. Es ist so groß, dass Menschen ihre Höchstleistungen „Discovery“ nennen, z.B. eine der ersten Raumfähren der Amerikaner. „Die Entdecker“ war die Epoche, als Europäer plötzlich lossegelten, um zu gucken, was es eigentlich noch so gibt. Noch mehr: Entdecken ist ein Teil des Lebens, der Motor, der uns alles – essen, laufen, sprechen – beibringt. Musst du nur in das erst erstaunte, dann strahlende Gesicht eines Windelhopsers gucken, der sich das erste Mal am Türrahmen hochzieht. Und es danach so lange macht, bis er es drauf hat. Nächste Entdeckung!

Was also für ein Wort! Und da wird es verheizt von den Konsumphilosophen. Wird verschenkt an die schlaffe Alltagsnormalität, für nichts als Gewinn. Leute, das geht nicht. Denn wenn „entdecken“ erstmal verheizt ist, haben wir kein Wort mehr für das, was es meint.

O2 ist ja nur EINE Firma, die versucht, uns mit Ankündigungen vermeintlich spannender Entdeckungen zu locken. Wenn man diesen Gedanken im Kopf hat, fällt einem plötzlich auf, wie sehr das gerade Mode ist. Gerade, wenn du Kinder hast: Auf allen Verpackungen, im Kinderfernsehen, im Spielzeuggeschäft, überall wird suggeriert, dass sie was Tolles erleben, wenn sie das kaufen, bzw. gucken. Wie armselig von uns Erwachsenen.

Ich bin für eine Wortsteuer. Satzbildende Wörter sind umsonst, alle anderen aber, die was Bestimmtes meinen, kosten, wenn sie kommerziell genutzt werden. Je größer das Wort, je seltener Synonyme, umso teurer. Kann abgewickelt werden über die GEMA. Und Wörter wie „Liebe“ sind verboten, weil sie viel zu kostbar sind. Weil es obszön ist zu meinen, Lebensmittel zu lieben, wenn man sie doch millionenfach nur verkauft, manchmal verramscht und zum Teil wegwirft. Und weil es einfach nicht geht, den Menschen in den Mund zu legen, „es zu lieben“, um sie von industriellem Schnellessen zu überzeugen.

Die Unmittelbarkeit ist für derartige Entwertungen zu sperrig und hat bisher überlebt als ein Wort, das noch wirklich was sagt.

Gerade heute. Ich finde den Gedanken plausibel, dass wir weniger Traurigkeit hätten, wenn wir unmittelbarer lebten. Die Massenphänomene: Burnout, Einsamkeit oder gefühlte Sinnlosigkeit sind doch Folgen der vermittelten Welt, in der wir leben? Klar, gab es die auch vorher, weil wir auch vor dem Netz gestresst waren, telefonierten, statt uns zu treffen und in sinnbefreiten Jobs landeten. Ist nur heute alles ein paar Zacken schärfer.

Neulich wurde ich eingeladen zu einer Radiodiskussion über die Frage, ob die Menschen, die ohne Netz leben, wohl bald aussterben würden. Es wurde ein Hörer zugeschaltet, der in fließendem Deutsch mit Akzent sagte, er komme aus der Türkei und würde  – es ging gerade um Einsamkeit, weil wir zunehmend im Netz bestellen, statt vor die Tür zu gehen – gern das Beispiel eines orientalischen Marktes anführen. Sinngemäß erzählte er, dass es auf einem solchen Markt nicht um das reine Einkaufen und Feilschen gehe, sondern um den Austausch. Man würde sich erzählen, wie es gerade geht und wer arm sei, würde eben auch weniger bezahlen. Leider war das zu abgefahren, keiner ging drauf ein. Dabei war das, was er beschrieb, Unmittelbarkeit pur. Das Geld geht durch die Hände statt durch elektrische Leitungen; die Ware wird übergeben statt geliefert. Man guckt sich an, hatte einen Moment miteinander – und kann hinterher drüber nachdenken, sich freuen oder lästern. Alles unmittelbar.

Wenn ich mir nun vergegenwärtige, wie viele Bereiche wir innerhalb der Internetzeit aus der Unmittelbarkeit abgezogen und an Vermittler übergeben haben, wird mir schlecht:

  • Warenbestellungen, um das Bessere billiger zu bekommen.
  • Filme streamen statt Kino gehen
  • Die Welt gucken statt auf Reisen gehen
  • Liken statt anlächeln
  • Navibla statt selber suchen

Na klar geht alles schneller und vordergründig besser. Und natürlich war es früher nervig, z.B. in der Ferienzeit am Bahnhof als Nummer 20 in der Reihe zu stehen und nur drei von fünf Schaltern waren besetzt. Schlechte warme Luft, genervte Leute, schaff ich den Zug? So die Erinnerung. Ich habe aber auch noch eine andere:

Stehe also in der Schlange, die Luft ist gar nicht so schlecht, die Leute sind friedlich und ich hab auch noch Zeit. Gucke mich um, kann sehen, was die alle so machen, wie sie auf das Warten reagieren. Ein paar sitzen auf ihren Koffern und gucken Luftlöcher, eine Mutter sitzt mit schlafendem Kind im Arm und ein paar Plätze vor mir in der Reihe steht eine aufregend schöne Silhouette. Wie die wohl von vorn aussieht? Nee, ich kann jetzt hier nicht aus der Reihe, um einen Blick zu erhaschen. Muss warten. Ah, jetzt ist sie dran. Sie nimmt das Ticket, packt ihr Portemonnaie ein und dreht sich um. Mein Gott, ist die schön. Ich steh wie angetackert, sie lächelt und geht vorbei. Puuh. Jetzt nicht umdrehen, einfach nur genießen.

Das war also eine kleine, unvermittelte Verknalltheit, so aus dem Nichts, ohne Bedeutung, ohne irgendwas und mein Tag danach beschwingt. Einfach schön. Danke ans Universum.

Und heute? Likes anklicken, aussortieren, weitergucken, finden, Nachricht schreiben, warten. Sogar das Flirten haben wir vertechnisiert.

In England haben sie ein Ministerium für (oder gegen?) Einsamkeit eingerichtet. Ein Ministerium! Passiert ja nicht alle Tage. Machen die auch nicht ohne Grund. Ich wäre für die Einrichtung eines Unmittelbarkeits-Ministeriums, wenn sich das nicht schon im Grundgedanken ausschließen würde.