Leben am Existenzminimum

Leben am Existenzminimum

1989 und lustigerweise ein paar Monate bevor der real existierende Kapitalismus den bis dahin real existierenden Sozialismus besiegte, stand ich auf dem Höhepunkt meines Lebensstandards: Ich war 18, lebte bei meinen Eltern und hatte einen dermaßen gut bezahlten Sommerjob, dass ich mir auf Schlag eine Stereoanlage, ein Surfbrett und ein Fahrrad kaufen konnte.

Danach machte ich Abi, zog aus, wurde Zivi, ging auf Reisen, lebte als freier Journalist, baute die Strand-Manufaktur auf, und erreichte nie wieder ein derartiges Konsumlevel. Schade für die Binnenkonjunktur, nicht für mich.

Ich lebe vielmehr am Existenzminimum, seitdem ich erwachsen bin. Und soll ich Ihnen sagen, wie das ist? Schön. Frei. Fröhlich. Unmittelbar. Angstarm.

Krass: Da wird einem von allen Seiten erzählt, suggeriert, eingeimpft, dass man es erst „schaffen“ muss, bevor man sich entspannen kann, dabei ist es umgekehrt: Erst das Leben, dann die Arbeit.

Dass wir, denn wir waren eine Clique, uns nicht dazu aufraffen konnten, strebsame Bürger zu werden, lag sicher an mehreren Faktoren. Zum einen regierte Helmut Kohl und hörte gar nicht mehr auf und alles, was er an geistig-moralischer Wende anzubieten hatte, versprühte die gleiche Anziehungskraft wie seine Brillengestelle: bieder und gewöhnlich. Alles, was uns politisch interessierte, war nach Tschernobyl „Atomkraft? Nein, danke.“ Und dafür stand Joschka Fischer, der dem Establishment in seinen Turnschuhen ein Dorn im Auge war und damit als Anker für alles, was mit Politik zu tun hatte, reichte.

Wir bauten Alusammelkisten für die Joghurtdeckel in der Schulpause, was sogar Geld einbrachte und Batteriesammelkisten gegen Blei und Cadmium im Hausmüll. Wir nähten Flicken auf zerrissene Jeans (bzw. drunter, weil das enorm cool aussah), Steffi strickte sogar einen Pulli aus Kassettenband und „Secondhand“ war unser Label. Mal in Berlin, interessierten mich vor allem die Läden, in denen man Klamotten zum Kilopreis kaufen konnte.

Schon damals waren alte Sachen cool: 80er Jahre Verstärker mit Drehreglern statt flackernden Leuchtdioden, Smokinghemden statt Buttondown und Kübelwagen statt Golf (das ist ein Käfercabrio mit vier Türen.) Der Unterschied zwischen mir und anderen Jahrgang 1969 ist vielleicht schlicht, dass ich drauf hängengeblieben bin. Nicht aus Coolness, sondern weil es reichte und funktionierte.

Wir waren Ökos der zweiten Welle. Nicht mehr so verbissen wie die 68er, die uns vor allem vorwarfen, nicht mehr zu Demos zu gehen. Deren Kritik glich darin absurderweise ihren eigenen Vätern, die ihnen, den Kriegsdienstverweigerern vorgeworfen hatten, das Vaterland nicht verteidigen zu wollen. Stalingrad und Brockdorf, das war aus unserer Perspektive plötzlich ähnlich. Wir gingen nicht auf Demos, weil Demos unsexy waren. Das eine Mal, im Studium und gegen die Verschärfung des Rechtes auf Asyl im Zug des Jugoslawienkrieges, stand ich plötzlich neben dem Block der Feministinnen, die für Gleichberechtigung waren. Ja klar, aber doch nicht jetzt, hier.

Ich las Weltumseglerbücher, die zuverlässig Bauchgrummeln erzeugten, wenn jemand in irgendeiner Lagune vor Anker ging; Hermann Hesse, weil der so ehrlich anders war; „Haben oder Sein“ von Erich Fromm und „Wir amüsieren uns zu Tode“ von Neil Postman, in dem er offenlegte, dass uns der ausufernde Fernsehkonsum dumm machte.

Zur selben Zeit verschwand das Testbild, das bis dato allen Spätguckern „geh jetzt ins Bett“ gesagt hatte, stattdessen kam das Privatfernsehen mit Produktionen wie TuttiFrutti, wo Moderationsassistentinnen plötzlich aufliefen wie die Frauen in der Herbertstraße (das ist der Touripuff auf der Reeperbahn). Das sollte besser sein, als vorher? Nein. Und ist es auch nicht mehr geworden.

Ich bin also 1989 stehen geblieben, ebenso wie viele DDR-Bürger, und ein Beispiel dafür, dass man auch als Wessi den Anschluss an die weitere Entwicklung verpassen konnte.

Zumal es für uns kaum Verheißungen gab. Die Arbeitslosigkeit war hoch, einen guten Job zu bekommen, Glück und alles, was mit Erwachsenwerden zu tun hatte, unsäglich ernst. „Raus“, war die einzige Chance, vor großen Entscheidungen erstmal Luft zu holen und so verschwand ich nach dem Zivildienst mit meinem Rucksack für ein Jahr nach Südostasien.

Am dritten Tag auf Sri Lanka machte ich eine der wichtigsten Erfahrungen der ganzen Reise: Am Straßenrand saß eine Bettlerin und lächelte. Moment: Ich komme aus der Ersten Welt, wo alles so toll ist, reise in die Dritte Welt, wo sie doch alle so arm sind, treffe also auf einen der ärmsten Menschen der Welt und bekomme ein Lächeln. Wie von keinem Bettler in Deutschland, aber auch keinem Manager. Das war die Antwort auf viele Fragen und ist mein Kompass geblieben. Fröhlich ist wichtig und hat nichts mit Arbeit zu tun.

Insgesamt 16 Monate machte ich Ferien im ewigen Sommer. Als sich auf dem Rückflug die Route kreuzte, bestellte ich bei der Stewardess einen Sekt und schwor mir, mich nie mehr zu verlieren – was immer wieder doch nicht geklappt hat. Aber das Grundvertrauen war gesät. Die Erfahrung, dass du mit dem gleichen Geld, das andere Leute in einem Seychellenurlaub verbraten, eine Zeit leben kannst, die dich verändert.

Denn Geld ist nur die letzte Währung. Davor kommen Ideen, Lust, Selbstvertrauen. Auch Freunde, Bücher, Begegnungen. Und Secondhandläden, Container oder Baumarkt „hintenrum“.