Generalisten
In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft gibt es einen Hang zum Spezialistentum. Niemand ist mehr Arzt, Jurist oder Ingenieur, sondern Teil eines Fachgebietes, in das er sich eingearbeitet hat. Also: Neurologe, Familienanwalt oder Gleitlagerkonstrukteur. Natürlich gehören sie alle der jeweils übergeordneten Berufsgruppe an, das ganze Gebiet können sie aber kaum überblicken. Wie auch, schon ihr kleines Fachgebiet ist so umfangreich, dass es kaum in einen Kopf passt.
Da gibt es nichts zu kritisieren, tatsächlich ist es sogar natürlich, weil die Differenzierung nichts anderes ist als Evolution. Ein Beispiel?
Das Great Barrier Reef an der Ostküste Australiens beherbergt rund 1000 verschiedene Fischarten, die gleichgroße Ostsee dagegen nur 100. Warum? Weil das Great Barrier Reef Millionen Jahre alt ist, die Ostsee aber nur 10.000. Die Natur hatte am Riff einfach viel mehr Zeit, sich zu entwickeln, so dass sich der Lebensraum „Riff“ in tausend verschiedene Ökonischen unterteilte, die von den jeweiligen Arten besiedelt wurden. Interessanterweise kann man den Begriff „Ökonische“ recht treffend auch mit „Beruf“ übersetzen. Vor der australischen Küste sind also viele Spezialisten unterwegs, während in der Ostsee ein paar Generalisten durch die Gegend schwimmen. Organisatorisch betrachtet könnte man auch sagen, die Ostsee ist ein Dorf, das Great Barrier Reef eine Großstadt.
Also alles natürlich.
Mein Problem mit unserem Spezialistentum ist deswegen auch nur ein persönliches: Ich hatte nie Lust, Spezialist zu werden, irgendetwas supergut, dafür viele andere Sachen gar nicht zu können. So war von vornherein auch klar, dass ich nie reich werden würde – denn einer, der was Besonderes sehr gut kann, wird sehr viel besser bezahlt, als einer, der vieles irgendwie kann.
Angefangen hatte das schon beim Sport in der Schule. Ich konnte ganz gut Volleyball, Handball, Badminton; laufen, springen, werfen, sogar turnen. Aber nichts richtig. Nie war ich der erste, der für die Mannschaften gewählt wurde, Urkunden kann ich an einer Hand abzählen und Pokale mit eingraviertem Platz habe ich genau einen, da wurde ich mal herausragender Fünfter. Später sagte mal jemand, ich wäre aufgrund meiner Statur ein guter Schwimmer oder Radfahrer geworden, aber da hatte ich längst entschieden, dass es mehr Spaß macht, überall dabei zu sein, als irgendwo die Nummer Eins.
Etwas ganz gut aber nicht besonders gut zu können, hat nach meinem Empfinden folgenden Vorteil: Alle grundlegenden Techniken – egal, ob im Sport oder im Beruf – lassen sich recht leicht lernen. Nehmen wir Volleyball. Wenn du mit Bällen generell gern umgehst, hast du pritschen, baggern, schmettern schnell drauf. Wenn du aber bei Punktspielen gewinnen willst, musst du übenübenüben, regelmäßig zum Training und bei bestem Sommerwetter in die Turnhalle. Wir waren dann immer am Strand, wo es darum ging, dass der Ball nicht zu Boden fällt und hatten einfach eine herrliche Zeit, ohne siegen oder verlieren, dafür inklusive baden.
Als die Schulzeit dann vorbei war, hatte ich ein Problem: Was soll aus mir werden? Erstmal Zivi als Pflegehelfer in einem Krankenhaus. Intuitiv war es richtig gewesen zu verweigern, nicht, wie der Staat es hören wollte, weil ich nicht mit einer Waffe umgehen wollte, sondern weil Bundeswehr, soviel war mir aus Erzählungen klar, abhängen bedeutete. Gegen abhängen an sich ist nichts einzuwenden, aber bitte nicht in einer Kaserne. Stattdessen lernte ich etwas, was mir als Jüngstem von drei Kindern bisher unbekannt gewesen war: Sich um andere Menschen zu kümmern. Denn auf der Inneren Station, auf der ich arbeitete, bestand der Alltag aus waschen, wickeln, Betten machen. Was ich lernte, war, wie viel Gutes man leisten kann, wenn man sich kranken Menschen zuwendet. Wenn man sich Zeit nimmt und hineinfühlt in die Bedürfnisse derer, die nicht mehr selbständig sein können. Der dankbare Blick eines halbseitig gelähmten Schlaganfallpatienten, dem ich die Wasserflasche auf die richtige, von seiner gesunden Hand erreichbaren Seite des Bettes stellte, gehört bis heute zum Besten, was ich je in einem Job bekommen habe. Was hatte ich gemacht? Nichts, was ein Kind nicht auch könnte. Oder die teils beschämten, vor allem aber dankbaren Blicke all derer, die wir aus ihren Missgeschicken holten, wuschen und wieder zurück in ein sauberes Bett legten.
Wie sollte ich nach dieser beruflichen Frühprägung noch den Ehrgeiz aufbringen, mich durch ein langes Studium zu quälen, um danach Spezi für irgendwas Sächliches zu werden?
Zwischen dem Zivildienst und dem Aufbau meines Betriebes, der Strand-Manufaktur, habe ich 23 Jahre lang alles Mögliche gemacht. Eine Auswahl: Dolmetscher, Kurtaxeneintreiber, Walbeobachter, Kellner, LKW-Fahrer, Vorleser, Geschichtenschreiber, Tischlereihelfer, Würstchenverkäufer, Fischezähler, Rasenmäher, Abwäscher, Fotograf, Segellehrer, Zeitungsausträger.
Den Job als Kurtaxeneintreiber brach ich nach einem Tag wieder ab, Kellner dagegen war ich jahrelang und einmal war ich als Seminarleiter sogar richtig angestellt. Allerdings nur sechs Monate. Am letzten Tag der Probezeit ging ich zum Chef und sagte, dass das wohl nichts werden würde, er meinte nur: „danke.“
Ich will nicht verheimlichen, dass ich öfter nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Andererseits habe ich verschiedenste Berufsbilder erlebt, bin in 44 Ländern der Welt gewesen, habe soo viel gesehen und immer wieder machen können, was ich wirklich wollte: Die Welt erleben.
Zu gut war ich mir auch für Handlangerjobs nicht, weil die Neugier „Wie ist das denn, was macht man da?“ stärker war. Außerdem hatte jeder Job – bis auf die, die ich schnell wieder ließ – irgendwas Gutes: Wenn du z.B. mitten in der Nacht mit einem 7,5-Tonner durch Hamburg gurkst, um Lebensmittel auszuliefern, gehörst du mit zu den Jungs „aufm Bock“, und das fand ich ziemlich cool. Als Kellner wiederum bist du mitten im Leben, da, wo die Leute ausgehen und machst, wenn du schnell bist, gutes Trinkgeld. Oder als Rasenmäher beim Nachbarn: null Anfahrtsweg und freie Zeiteinteilung.
Mein – dann doch – Studium, eine Mischung aus Soziologie und Meeresbiologie, für das ich knapp acht Jahre brauchte, hat bei alledem übrigens nur wenig gebracht. Als Lebensphase war es okay, in der Summe aber total uneffektiv. Erst beim Aufbau meiner Strand-Manufaktur hat es mir etwas Rückendeckung gegeben, ohne hätte ich sie aber genauso aufziehen können.
Im Gegenteil, meine Befähigung für den Job, den ich bisher am längsten gemacht habe – 12 Jahre als Journalist und Fotograf – kam daher, dass:
- ich mit zwölf Jahren angefangen hatte, Tagebuch zu schreiben und damit meinen Stil gefunden hatte, lange bevor die ersten Aufträge kamen,
- die Fotokamera meines Vaters immer offen und zum üben herumgelegen hatte.
Meine „Ausbildung“ zum Journalisten war also bereits erfolgt, bevor die ersten Berufsberater in die Schule kamen.
Wenn ich mir im Nachhinein etwas vorwerfe, dann, dass ich mir auf dem ganzen Weg immer wieder den Kopf zermartert habe, was aus mir denn mal werden soll. Mit einer größeren Portion Selbstbewusstsein und etwas mehr Selbsterkenntnis hätte ich zu jeder Zeit schlicht antworten können: „Kristian Dittmann – was sonst?“
Deswegen: Solltest du jung sein, vor der Frage stehen, was du beruflich mal machen willst und dabei feststellen, dass dich die Angebote der Gesellschaft nicht wirklich reizen, dann entscheide dich einfach nicht.
– Brauch wenig,
– hab nie Schulden und
– mach, was du willst, was dich interessiert, worin du schon früher gut warst.
– Nimm ernst, woran du denkst, wenn du tagträumst.
– Mach dir vor allem nicht so einen Kopf wie ich und
denk an die Fische der Ostsee: Die sind sicher nicht die buntesten, schnellsten, tollsten und können nichts besonders gut. Sie kommen aber immer durch und wenns irgendwo eng wird, suchen sie sich was Neues, fressen was Anderes.