Haben Fliegen eine Seele?
Es ist schon erstaunlich, wie sehr den Menschen die Frage bewegt, ob er nun tatsächlich über den Tieren steht oder doch nur eines von ihnen ist. Erstaunlich auch deswegen, weil meist verneint wird, dass Tiere eine Seele haben, und sei es nur, um in Angesicht der Weihnachtsgans die eigene zu retten. Zwar weiß jeder Hundebesitzer, dass sein Hund traurig gucken kann oder fröhlich, und wird die Frage in diesem Fall mit „ja“ beantworten. Aber irgendwelche Vögel, Fische und Frösche? Oder gar niedere Tiere, also die ohne Rückgrat? Die ganzen Käfer, Fliegen, Spinnen?
Dabei kann man mit folgendem Experiment der Frage ganz einfach auf die Spur kommen:
Ich sitze also da und eine Fliege setzt sich auf meinen Arm. Scheuche ich sie direkt weg, versucht sie es noch ein, vielleicht zwei Mal, ehe sie aufgibt. Lasse ich sie aber eine Weile meine Wärme spüren und verscheuche sie erst dann, kommt sie immer wieder, versucht es erneut. War doch so schön, kann doch nicht sein.
Das ist nichts anderes als lupenreines Lernverhalten. Denn was gut ist, will sie wieder. Wie jedes Kind, wie jeder Erwachsene.
Von hier aus direkt auf eine Seele der Fliege zu schließen, ist vielleicht etwas kühn. Entscheidend aber – weil „Seele“ sowieso nicht wirklich zu benennen ist: Das Lebendige erkennt sich. Zwei meiner Eigenschaften sind aus ihrer Perspektive ausschlaggebend: „warm“ und „könnte mich klatschen“. Anders als ein aufgewärmter Stein, der sie nicht verscheuchen kann.
Falls Sie diesen Gedankengang unplausibel finden, verbringen Sie mal eine Woche mit einer Fliege in ihrer Wohnung und Sie werden wie einst Reinhard Mey mit seiner Küchenschabe feststellen, dass Sie sich in einer Art Verbindung mit dem Tier befinden. Prinzipiell passiert also das Gleiche wie mit einem Haustier: Man lernt sich kennen, gewöhnt sich an Routinen und lebt in dem Bewusstsein, miteinander zu sein. Am Ende meiner Woche mit einer Fliege habe ich mich gefreut, wenn sie auf meinem leergegessenen Teller saß und fleißig fraß und habe gewartet, bis ich ihn in den Geschirrspüler stellte.
Das erste Mal, dass ich darauf hingewiesen wurde, dass man Tiere nicht einfach so plattmacht, war mit ungefähr sechs Jahren. Es war mir eine neue, tierische Freude, Kellerasseln im gebündelten Sonnenlicht einer Leselupe zu verbruzzeln. Erst rollten sie sich zusammen, dann machte es knack. Assel tot. Mein Vater sah das, nahm mich beiseite und sagte:“ Die haben genau so ein Recht zu leben wie du.“ Das fand ich zwar nicht und mein Spiel war kaputt, aber anscheinend hat der Satz damals gesessen. Heute, wenn meine Kinder bei Käfer, Spinne, Brummer „Iiieeeh“ schreien, sage ich: „Guck mal, krass, oder? Kann laufen, essen, kacken, sich vermehren, alles. Ohne Akku.“ Das zieht, denn irgendwie, finden sie, habe ich ja recht. So ein Käfer hat was im Sinn, wenn er durch den Garten krabbelt, muss noch fressen, will nach Haus oder zu seiner Freundin, und ist tausend Mal eigenständiger als ferngesteuerte Autos oder Kuscheltiere mit Stimme.
Ich finde das ist wichtig, weil: Neulich kam der UNO-Bericht über das Artensterben heraus. Und wenn wir trotz mittlerweile 50 Jahren Ökobewegung tatsächlich gerade dabei sind, Tiere so schnell auszurotten, wie es nur geht, kriege ich Angst. Um all die Krabbeltiere, die hier ihren Job machen und genau so gern leben wie wir.